BJÖRN OGNIBENI 欧博洋

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Wie China die gute, alte Eisenbahn neu gedacht und skaliert hat.

Disruptive China Briefing - erschienen als Kolumne im Handelsblatt am 12. Januar 2021.

Kurz bevor vergangenes Jahr der Virus-Wahnsinn los ging, hatte ich einen Termin in Berlin, bei dem auch eine Teilnehmerin aus Asien dabei war. Es war ihr erster Besuch in Deutschland und sie kam direkt vom Frankfurter Flughafen. Ihr erster Eindruck? Das deutsche Bahn-System ist extrem kompliziert! Alle hätten ihr gesagt, sie solle von Frankfurt nach Berlin den „High-Speed-Train“ nehmen. Den konnte sie im Frankfurter Hauptbahnhof aber nicht finden. Stattdessen musste sie einen normalen Zug nehmen – einen ICE.

Als wir meinten, dass das doch der High-Speed-Train wäre, schüttelte sie energisch den Kopf. Das hätte sie überprüft: Die Entfernung sind rund 500 Kilometer und der ICE brauche über 4 Stunden. Das kann doch kein High-Speed-Train sein…? Doch, bei uns schon, erwiderten wir. Als „High-Speed-Train“ werden heute Züge bezeichnet, die über 250 km/h fahren. Da der ICE aber kein eigenes Streckennetz hat, gilt das bei uns nur für kurze Teilstrecken. Die Durchschnittsgeschwindigkeit ist in der Praxis also deutlich niedriger.

In China ist das anders. Ähnlich wie in Frankreich, Spanien oder Japan sind dort Hochgeschwindigkeitszüge auf einem eigenen Schienennetz unterwegs. Deshalb braucht die schnellste Zugverbindung zwischen Peking und Shanghai nicht viel länger, als der ICE von Berlin nach Frankfurt. Allerdings ist die Strecke etwa dreimal so lang. Das ist durchaus erstaunlich. Denn Züge galten mal als ein guter Beleg für die Vorstellung, dass China nur eine große Kopiermaschine für westliche Technologie ist. In den frühen 2000’er Jahren ließ man sich Teststrecken von Zugherstellern aus Frankreich, Japan und Deutschland bauen und schaute sich die gelieferte Technik genau an. Doch statt zu kopieren, lernten die Chinesen.

Das es hier durchaus einen Unterschied gibt, erkennen Sie, wenn wir uns heute die Züge von China Railway Rolling Stock Corporation (CRRC) anschauen, dem inzwischen größten Schienenfahrzeughersteller der Welt. Das, was sie damals sahen, entwickelten sie konsequent weiter und bauten Züge, die in einigen Aspekten den vermeintlichen „Vorlagen“ aus dem Westen überlegen sind. Und das nicht nur, weil Klimaanlagen und Toiletten deutlich zuverlässiger funktionieren, als beim ICE. Oder weil die Business-Class dort Liegesitze hat, die komfortabler sind, als viele Business-Class-Sitze in Flugzeugen. Viel wichtiger sind zwei andere Features: Geschwindigkeit und Pünktlichkeit.

Liegesitze in der Business Class

Die CRRC-Züge fahren auf weiten Streckenabschnitten 350 km/h und praktisch immer im Plan. Fragen Sie auf einer Fahrt einen chinesischen Mitfahrer, wie oft die Züge zu spät sind, kann es passieren, dass er die Frage gar nicht versteht. Die Vorstellung, dass ein Zug unpünktlich sein könnte, erscheint ihm zu abwegig. Anders ist das übrigens bei chinesischen Flügen: Die sind oft verspätet.

Doch auch die besten Züge sind nur so gut, wie das Streckennetz auf dem sie fahren. Gerade hier sehen wir das wirklich bemerkenswerte am chinesischen Zug-System: die unglaubliche Größe des High-Speed-Rail Netzwerkes. Vor 2008 gab es praktisch keine schnellen Zugverbindungen in China. Dann kam die Finanzkrise aus der die Zentralregierung versuchte mit staatlichen Investitionsprogrammen zu kommen. Dazu gehörten auch große Infrastrukturprojekte. In dem Rahmen startete der Plan ein landesweites Netzwerk für Hochgeschwindigkeitszüge aufzubauen.

10 Jahre später hatte China bereits mehr High-Speed-Rail-Strecken gebaut, als alle westlichen Nationen zusammen seit dem Start des japanischen Hochgeschwindigkeitszugs Shinkansen in den 60’er Jahren. Heute umfasst das Netz über 35.000 Kilometer.

CHINA HAT DAS LÄNGSTE HOCHGESCHWINDIGKEITS-SCHIENENNETZ

Dabei gab es auch Rückschläge, wie ein tragisches Zugunglück in Wenzhou im Jahr 2011. Bei einem Auffahrunfall aufgrund einer Signalstörung starben 40 Menschen. Bei der anschliessenden Untersuchung fand man eine Reihe technischer Defizite und Fälle von Korruption. Doch die Probleme von damals sind inzwischen überwunden. Heute ist das System extrem sicher und zuverlässig. Damit stellt sich eine Frage: Wie hat China es geschafft in so kurzer Zeit ein so großes Netz aufbauen?

Das politische System spielte dabei eine wichtige Rolle, da es in einem autoritär regierten Land natürlich sehr viel einfacher ist, solche Bauvorhaben zu realisieren. Das ist jedoch auch mit vielen negativen Seiten verbunden, etwa wo Streckenführungen gegen den Willen der lokalen Bevölkerung rigoros durchgesetzt werden. Oder wenn der Staat die Züge als Sanktionsmittel einsetzt. Denn wer heute gegen Gesetze verstößt, landet schnell auf schwarzen Listen und kann dann die Hochgeschwindigkeitszüge nicht mehr nutzen.


Doch die Politik ist nur ein Teil der Antwort. Auch ein autoritäres System steht vor unglaublichen technischen Herausforderungen, wenn man ein solches Infrastrukturprojekt sicher und schnell umsetzen will. Diese lassen sich nicht per Dekret von oben lösen.

Um die Herausforderung zu bestehen, hat China den Bau von Zugstrecken industrialisiert. Sie haben nicht einzelne Schienenstrecken geplant und gebaut, sondern eine riesige Maschinerie entwickelt, die ein Skalieren des Streckenbaus möglich machte. Dabei verlaufen die Schienen in großer Höhe auf Viaduktkonstruktionen, so dass man unabhängig von der Bodenbeschaffenheit bauen kann. Dies erfolgt unter Verwendung standardisierter Bauteile und Spezial-Maschinen, die alles schnell und effizient zusammenführen.

So wurde in China die Art und Weise, wie man Eisenbahn-Strecken baut, von Grund auf neu gedacht. Sie haben vom Westen gelernt, wo es sinnvoll erschien und eigene Ansätze entwickelt, wo diese Erfahrung im Weg stand, das Ziel zu erreichen. Die Bereitschaft neu zu denken, war für den Erfolg vermutlich entscheidender, als das politische System.

Dies zeigt aber auch eine grundsätzlich andere Herangehensweise an solche Aufgabenstellungen. Wir würden hier eher mit der Frage starten, wie viele Kilometer realistisch pro Jahr gebaut werden könnten. Dabei wären die meisten westliche Experten vermutlich überzeugt, dass ein Ziel, wie das Bauen zehntausender von Kilometern in wenigen Jahren, komplett unmöglich ist. In China denkt man jedoch andersrum: es wird ein Ziel formuliert und dann überlegt, was zu tun ist, um dies zu erreichen. Wenn dann dafür eine Industrie neu erfunden werden muss, macht man das eben.

Genauso geht Elon Musk vor, wenn er Pläne für sein Energie- und Autounternehmen Tesla oder sein Raumfahrt- und Telekommunikationsunternehmen SpaceX umsetzt. Die Ergebnisse sind ähnlich beeindruckend und ein solcher Denkansatz könnte auch bei uns für viele Bereiche durchaus Sinn ergeben. Ein Beispiel: die Pandemie-Bekämpfung. Wir fragen uns immer neu, wie viele Infektionen wir zulassen müssen. In Ländern, die deutlich besser durch die Krise kommen, ist die Frage: Was ist zu tun, damit es keine Infektionen gibt? Mutiger und ambitionierter zu denken, erscheint gerade hier dringend nötig.

Zurück zum Thema Schienensysteme in China. Dort geht das “Neu-Denken” trotz oder gerade wegen des bisherigen Erfolgs kräftig weiter. Erst vor zwei Wochen wurde eine neue Güterzug-Generation auf der Basis der Hochgeschwindigkeitszüge vorgestellt. Zukünftig laden dort Roboter automatisiert und schnell Waren in Züge, die sie dann mit 350 km/h zum Ziel transportieren – das Prinzip Güterzug neu gedacht mit entsprechend neuen Möglichkeiten.

Auch im Personenverkehr geht es innovativ weiter. Statt mit dem bisher Erreichten zufrieden zu sein, plant China bereits die nächste Generation von Hochgeschwindigkeitszügen. Auf Basis einer Technologie, die zum großen Teil aus Deutschland kommt: Magnetschwebebahnen, die mit bis zu 600+ km/h unterwegs sein sollen und viele umweltschädliche Flugverbindungen endgültig obsolet machen dürften.

Die Transrapid-Technologie wurde mit erheblichen deutschen Steuermitteln entwickelt. Die weltweit einzige jemals gebaute Strecke befindet sich jedoch seit 2002 in Shanghai, China. Und auch hier dürften die Chinesen viel in den vergangenen 18 Jahren gelernt haben. Wissen, das sie nun nutzen wollen, um ein landesweites Netz von Maglev-Zügen aufzubauen. Es wird interessant zu beobachten sein, ob dieses Vorhaben ähnlich erfolgreich ist. Uns bleibt dann die Freude zu wissen, dass all das deutsche Know-How am Ende doch noch sinnvoll eingesetzt wird…